von Olaf Kern

Diese Geschichte lässt ihn nicht los. Dieter Kassing gerät in Fahrt, sobald er auf den größten Skandal in der deutschen Atomindustrie zu sprechen kommt. Und er kommt immer noch sehr oft darauf zu sprechen. Was Ende der 80er Jahre in Hanau um die dubiose Transportfirma Transnuklear passierte, hielt nicht nur jahrelang Justiz, Wirtschaft und Politik in Atem. Es wurde auch Kassings persönliche Lebensgeschichte. Ewig getrieben von der Suche nach der Wahrheit. Rastlos bis ins Rentenalter: Wie kann das sein?, fragt er sich bis heute.

Es ging um Betrug in Millionenhöhe, um Untreue und Steuerhinterziehung, um unerlaubten Umgang mit Kernbrennstoffen und um illegale Abfallbeseitigung. Ein in der Geschichte der Bundesrepublik einzigartiger Kriminalfall, der immer noch nicht restlos aufgeklärt ist.

Kassing, Jahrgang 1941, hat das unrühmlichste Kapitel der deutschen Atomgeschichte verfolgt, nachdem die Sache ruchbar wurde, war Journalist der Bonner Republik. Er kennt seither jedes Detail. Jede Spur. Jeden Zeugen. Er hat Akten, Geheimdokumente und Berichte studiert. Die Erkenntnisse akribisch notiert, immer wieder Artikel verfasst, vor kurzem sogar ein Buch veröffentlicht, in dem er aus den Fakten einen fiktiven Polit-Thriller spinnt, der an die größten Verschwörungsphantasien eines Stieg Larsson oder Frank Schätzing erinnert.

Die geschilderten Vorfälle sind rund drei Jahrzehnte her. Die meisten Akteure von einst sind verschwunden. Der deutsche Atomskandal verpuffte wie eine schwache Explosionswolke. Aber sie stinkt immer noch. Geblieben sind aus Sicht von Dieter Kassing eine Menge Ungereimtheiten. Geblieben sind auch viele offene Fragen, auf die er Antworten sucht und die vor kurzem auch die Hanauer Staatsanwaltschaft wieder aufhorchen ließen. Zum Beispiel diese: War es Mord oder Selbstmord?

 

Fässer, die zum Transport von abgereichertem Uran benutzt wurden, vor dem Firmensitz von Transnuklear in Hanau (im Dezember 1987).Fotos: Senftleben/Privat
Fässer, die zum Transport von abgereichertem Uran benutzt wurden, vor dem Firmensitz von Transnuklear in Hanau (im Dezember 1987). Fotos: Senftleben/Privat

 

Die Schlüsselfigur

Gemeint ist der Tod von Hans Friedrich Holtz, einst wichtigster Zeuge im Prozess um die Machenschaften bei der Atommüllspedition Transnuklear (TN), die den Skandal auslöste. Holtz, ehemaliger Prokurist bei Transnuklear, galt als Schlüsselfigur in der beispiellosen Schmiergeldaffäre. Jahrelang hatten er und weitere TN-Mitarbeiter verstrahlten Abfall westdeutscher Kernkraftwerke mit dem Versprechen abgenommen, den Atommüll in Belgien verbrennen zu lassen und die Rückstände in Fässer verpackt wieder zurückzuschicken.

In Wahrheit enthielten die Fässer alles Mögliche, darunter die hochgiftigen Stoffe Plutonium oder Kobalt 60, nur nicht die von den Betreibern erwarteten Abfälle. Der Clou: Marktführer Transnuklear hatte den falsch deklarierten Atommüll aus Belgien einfach wieder nach Deutschland fahren lassen. Den Kraftwerksbetreibern wurde eine fachgerechte Entsorgung vorgegaukelt. Doch die brisante Fracht wurde einfach an ungeeigneten Standorten abgeladen oder ist gleich ganz verschwunden. Wohin, ist bis heute nicht bekannt. Manches Fass sei auch einfach ins Meer „entsorgt” worden, mutmaßten später die Staatsanwälte.

Für Leistungen, die nie erbracht wurden, kassierten die dreisten Transportmanager aus Hanau allerdings Unsummen. Und sie schufen einen einzigartigen Sumpf aus Schmieren, Schieben und Schweigen. Kunden, Sicherheitsbeauftragte und sogar Buchhalter in Kernkraftwerken, quasi alle Beteiligten des riesigen illegalen Abfallkreislaufes hielten die Herren aus Hanau mit „Zuwendungen” bei Laune.

Am Ende waren Millionen an Schmiergeldern zusammengekommen. Wie viele Millionen verschoben und veruntreut wurden, wusste niemand mehr genau. Transnuklear-Prokurist Hans Holtz wusste immerhin viel. Vielleicht zu viel? Gut möglich, meint Rechercheur Dieter Kassing. „Er war verbittert und bereit auszupacken”, sagt Kassing. Und will den Fall nach fast 30 Jahren wieder aufrollen.

Ein wichtiges Dokument ist das Protokoll der Vernehmung von Hans Holtz vom 22. Juni 1987. Aus der 13-seitigen Abschrift der Tonbandaufnahme geht präzise hervor, wie es damals zur Geldbeschaffungsmaschinerie kam. Holtz wusste, wie schlecht es Ende 1978 um die Geschäfte seiner Firma stand. Mit einer Million Mark sei man in den roten Zahlen gewesen. Um die Situation zu verbessern, habe die Geschäftsleitung beschlossen, die Akquise von Transportaufträgen für Atommüll „etwas aggressiver” zu betreiben. Dazu gehörten kleinere und größere Geschenke an die Vertreter von Kernkraftwerken. Geliefert wurde, was genehm war: Mal waren es Eierkocher, mal Querflöten, ein anderes Mal Jagdgewehre oder teure Autos. Mit „Zuwendungen” bei Laune halten, das hieß aber auch regelmäßige Besuche in Nobelherbergen, Edelrestaurants, Bars und Bordellen. „Wenn eine Maschine nicht läuft, muss man sie ölen”, zitierte Holtz einen Vorgesetzten.

Auch das wusste Holtz: Überall wurde die Hand aufgehalten. Die Liste der Geschenke-Empfänger war lang. Sie saßen in nahezu allen Kernkraftwerken der Bundesrepublik sowie in den Hauptverwaltungen der Stromkonzerne. Verantwortlich an den sensibelsten Stellen der Atomwirtschaft, im Bereich radioaktiver Abfälle. Auch Bargeld sei geflossen. Wie viel und an wen geht aus der penibel geführten Buchhaltung hervor. Ein Kraftwerkstechniker aus Hannover soll beispielsweise 600 000 Mark erhalten haben. Zur Geldbeschaffung war eigens eine Scheinfirma gegründet worden, einzig mit dem Zweck, schwarze Kassen anzulegen. Geld floss den Ermittlungen zufolge über Schweizer Bankkonten auch in die eigenen Taschen der Transnuklear-Manager. Das Geschäft mit dem brisanten Material – ein Selbstbedienungsladen.

Holtz konnte auch Namen nennen. Er wusste, wer sonst noch am Hanauer Standort in die Geschäftspraktiken auf dem riesigen Verschiebebahnhof mit dem verstrahlen Müll involviert war. Nicht nur die Geschäftsleitung seiner Firma Transnuklear. Sondern auch die Geschäftsleitung der Mutterfirma Nukem. Ein Betrugsfall von erheblicher Sprengkraft, der immer weitere Kreise zieht, bahnt sich mit den Aussagen des Beschuldigten Holtz an und bedroht nun die gesamte deutsche Nuklearbranche. Ausgerechnet jetzt. Der GAU von Tschernobyl ist noch frisch in Erinnerung, das Vertrauen der Deutschen in die Kernkraft erschüttert.

Vier werden angeklagt

„Rund 50 Personen”, so der damalige Hanauer Leitende Oberstaatsanwalt Albert Farwick, kommen „in Betracht”, in den Fall von Untreue und möglicherweise auch wegen Verstoßes gegen atomrechtliche Sicherheitsbestimmungen verwickelt zu sein. Vier werden angeklagt. Transnuklear-Prokurist Hans Holtz ist einer von ihnen. Die meisten schweigen. Holtz will reden. Hat sich noch mit seinem Anwalt besprochen und sich eine Strategie zur Verteidigung zurechtgelegt. Einen Tag, bevor er vor Gericht aussagen will, nimmt er sich in seiner Zelle des Hanauer Untersuchungsgefängnisses jedoch das Leben. Selbstmord – so die offizielle Version der Staatsanwaltschaft, daran gebe es „keinen Zweifel”, konstatiert der Leitende Staatsanwalt Albert Farwick. Es gibt auch einen Abschiedsbrief an seine Frau. Gibt es wirklich einen?

Autor Dieter Kassing hat aber von Anfang an Zweifel an der Selbstmord-These. Wie genau hat der Angeklagte sich das Leben genommen? Merkwürdigerweise kursieren verschiedene Varianten, Aussagen widersprechen sich. In der Todesmeldung an das Hessische Justizministerium wird vermerkt, Holtz habe sich am linken Arm mit einer Rasierklinge die Arterie aufgeschnitten und war verblutet. Der damalige Leitende Oberstaatsanwalt sagt zwei Monate später vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss jedoch aus, der Häftling habe sich „sehr fachmännisch die Pulsadern an beiden Armen aufgeschnitten”. Kassing recherchiert auch im Wiesbadener Staatsarchiv. Mitarbeiter bestätigten ihm, Holtz sei an der Heizung erhängt aufgefunden worden. Welche Version stimmt? Entgegen allen Regeln der Justiz hat es auch nie eine Obduktion gegeben. Warum nicht – auch das fragt sich Kassing bis heute. Die Rasierklinge wird nie auf Fingerabdrücke untersucht. Äußerst merkwürdig auch: Die Todesermittlungsakte, aus der alles hervorgehen könnte, blieb unauffindbar. Jahrelang. Weder in den Unterlagen des Bundestagsuntersuchungsausschusses noch im Archiv des Hessischen Justizministeriums, an das die Akten 1990 weitergeleitet worden waren.

Plötzlich geschieht etwas

Der Fall verliert trotz allen Zündstoffs an Interesse, begünstigt durch die schnelle Vergesslichkeit von Gesellschaft und Behörden. Allein Kassing bohrt weiter. Bei der Hanauer Staatsanwaltschaft und der Generalbundesanwaltschaft in Frankfurt. Ob man die Schlüsselfigur des größten deutschen Atomskandals, den Mann, der andere im damals bevorstehenden Prozess hätte zum Zittern bringen können, (…) so still zwischen Aktendeckeln, mit der bloßen Feststellung: es war Suizid, begraben wolle? Über dessen Ableben so viel Widersprüchliches bekannt geworden ist. Ohne aufzuklären, was wirklich an jenem 15. Dezember 1987 um die Mittagszeit in der Zelle des Untersuchungsgefängnisses geschah?

Aber dann, Ende 2012, geschieht plötzlich doch etwas: Die Leiterin der Hanauer Staatsanwaltschaft, Elisabeth Opitz, macht sich auf den Weg nach Wiesbaden ins Hauptstaatsarchiv. Dort lagern rund vierzig Meter staatsanwaltschaftliche Ordner zum Atomskandal. Opitz vermutet hier die Todesermittlungsakte. Die Leitende Oberstaatsanwältin sowie eine Mitarbeiterin wühlen sich persönlich durch die Papiere. Tatsächlich werden sie fündig. Verborgen in einem Umschlag steckt die Todesermittlungsakte 1 UJs 28080/87 zum Fall von Hans Holtz.

Was steht drin? Könnten die Verdachtsmomente endlich ausgeräumt werden? Oder sollten die Zweifel doch berechtigt gewesen sein und sogar zu einer Wiederaufnahme der Ermittlungen führen?

Wie kann das sein? Buchautor Kassing („Nucleus“) will den Fall wieder aufrollen.
Wie kann das sein? Buchautor Kassing („Nucleus“) will den Fall wieder aufrollen.

Die Oberstaatsanwältin forstet die Todesermittlungsakte durch. Aber sie kommt zum selben Schluss wie ihr Vorgänger. Es war Selbstmord. „Für eine Wiederaufnahme des Verfahrens sehe ich nach Prüfung der Akten keinen Anlass”, schreibt Opitz in einem Brief vom 8. Februar 2013 an Dieter Kassing. Akteneinsicht erhalte er nicht. Aus Rücksicht auf noch lebende Angehörige, heißt es.

Kassing reicht das als Antwort nicht aus. Warum wurde der Notarzt hinzugezogen und kein Rechtsmediziner, warum wurde keine Obduktion veranlasst, um ein Fremdverschulden eindeutig auszuschließen? Warum ist das angebliche Tatwerkzeug der Rasierklinge nicht auf Fingerabdrücke untersucht worden? Woher stammte die Rasierklinge? Holtz sei schließlich Trockenrasierer gewesen und zur Ausstattung der Zelle gehörte eine Rasierklinge nicht automatisch. Fragen über Fragen. Die Justiz schweigt. Ebenso die Familie von Holtz, über die Kassing Akteneinsicht erhalten möchte. Er will nicht aufgeben, jetzt erst recht nicht locker lassen. Denn es gibt da noch eine andere Dimension: Würde aufgedeckt und bekannt, dass es bei seinem unnatürlichen Tod in der Zelle des Hanauer Untersuchungsgefängnisses doch Fremdeinwirkungen gegeben hat, könnte das auch heute noch die politische Landschaft verändern, ist Kassing überzeugt. Es würde belegen, dass hessische Politiker der damaligen Landesregierung nicht so genau hinschauten, oder nicht wollten, obwohl sich der damalige Reaktorsicherheitsminister Karl-Heinz Weimar (CDU) von den Hanauer Staatsanwälten genauestens berichten ließ. Immer mit am Tisch: Volker Bouffier (CDU), damals Staatssekretär im Justizministerium und heute Hessischer Ministerpräsident.

Politiker aller Couleur und bis in die höchsten Kreise waren seinerzeit ohnehin hochgradig nervös: Gut möglich, dass über die Hanauer Atomschieber auch waffenfähiges Material ins Ausland gelangt sein konnte. Womöglich in die Hände Pakistans, das damals an der Atombombe bastelte. „Bomben aus Hanau” („Spiegel”)? Ein „ungeheuerlicher Verdacht” kam auf, wie es der damalige Hessische Ministerpräsident Wallmann (CDU) formulierte. Damit hätte Deutschland den Atomwaffensperrvertrag gebrochen. Der internationale Aufschrei wäre immens gewesen: Bonn auf der Anklagebank von 135 Nationen. Viele der Hanauer Giftmülltransporte wurden auch über den Lübecker Hafen „entsorgt”. Zu Zeiten des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel (CDU). Barschel? Da war doch was. Der nahm sich am 11. Oktober 1987 in Genf unter mysteriösen Umständen das Leben. Aber das ist eine andere Geschichte.

Oder doch nicht?

 

Quelle:
Frankfurter Neue Presse, Artikel vom 06.04.2013.
http://www.fnp.de/rhein-main/rhein-mainhessen/Ein-ungeheuerlicher-Verdacht;art801,210355