16.10.13 Bild Lesung

Dieter Kassing ist penibles und hartnäckiges Recherchieren gewohnt. Einst war er Pressereferent im Bundesbildungsministerium, dann lange Jahre Fachjournalist für Energie- und Umweltfragen. Zeitweise führte er einen eigenen Verlag mit 50 Mitarbeitern. Nun sieht er sich im „Unruhestand“. Nie losgelassen haben ihn die skandalösen Vorgänge um die Hanauer Atom- und Plutoniumfabriken NUKEM, ALKEM und TRANSNUKLEAR in den späten 80er Jahren. Und je mehr Zeit vergeht, desto mehr Unterlagen aus verschiedensten Quellen tauchen auf und wurden von Kassing zu seinem Tatsachenroman „Nucleus“ verarbeitet. Auf Einladung der Groß-Gerauer Initiative Atomausstieg war der Autor am Dienstagabend in den fast vollbesetzten Kulturcafé-Saal gekommen.

Viele Meter Akten, zahlreiche Untersuchungsberichte und sehr informative Stasi-Unterlagen hat Dieter Kassing in den letzten Jahrzehnten ausgewertet, Zeugen besucht, Staatsanwälte und Justizbeamte befragt und sogar Geheimdienste angeschrieben. Unstrittig war schon nach den ersten Untersuchungsausschüssen, dass in der deutschen Atomwirtschaft Schmiergelder in Millionenhöhe an der Tagesordnung waren. Die Staatsanwaltschaft Hanau attestierte den Atomfirmen „sizilianisch-mafiöse Zustände“ und bescheinigte ihnen, dass „Geld stets von Sicherheit“ rangiert habe. Unerlaubter Umgang mit Kernbrennstoffen, illegale Beseitigung von atomaren Abfällen, Untreue, schwarze Kassen und Steuerhinterziehung sind offiziell festgestellte Tatbestände, die letztlich zur kompletten Schließung der Hanauer Firmen führten. 16.10.13 Publikum

Doch der Journalist sieht darin nur die Spitze des Eisberges. Seine Recherchen lassen ihn weitere Schlüsse ziehen. Dubios erscheint der angebliche Selbstmord von Transnuklear-Prokurist Hans Holtz, welcher offenbar bereit war, sein umfangreiches Wissen in einem Prozess zu offenbaren. Einen Tag vor dem Gerichtstermin, am 15. Dezember 1987, wurde er mit aufgeschnittenen Pulsadern in seiner Gefängniszelle gefunden. Weder wurde damals eine Fremdeinwirkung geprüft, so die Dokumente laut Dieter Kassing, noch wurde die Leiche obduziert. „Die Staatsanwälte  mussten vor und während der Ermittlungen regelmäßig beim damaligen Justiz-Staatssekretär Volker Bouffier, heute hessischer Ministerpräsident, antreten und erhielten Weisungen, was sie zu tun und zu lassen hatten“, erklärte Dieter Kassing.

Weitere Manager und Wissenschaftler, die in den Skandal verwickelt waren, kamen in der fraglichen Zeit unter mysteriösen Umständen ums Leben. Auch den ehemaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel, im Oktober 1987 ebenfalls Opfer eines unklaren Selbstmordes, sieht Kassing in die Ereignisse verwickelt. So hätten Stasi-Unterlagen zahlreiche inoffizielle Reise Barschels in die DDR belegt, von denen der Bundesnachrichtendienst angeblich nichts wisse. Außerdem sei der Hafen von Lübeck ein „atomarer Verschiebebahnhof“ gewesen, wo große Mengen radioaktiven Materials verschwunden sind. Dies betreffe Atommüll, der wahrscheinlich einfach im Meer entsorgt wurde, aber auch Ausgangsmaterial für Atomwaffen, welches sehr wahrscheinlich gegen horrende Schmiergeldzahlungen nach Libyen, Pakistan und Iran geliefert wurde.

Eine umfassende Aufklärung aller Tatbestände, so der Autor, hätte der gesamten deutschen Nuklearbranche schwer geschadet und zu internationalen Verwicklungen geführt, da Deutschland mit dem Export waffenfähigen Materials den Atomwaffensperrvertrag gebrochen hätte.

Dieter Kassing wartet aktuell auf weitere Unterlagen von Bundesnachrichtendienst (BND) und Staatsanwaltschaft und arbeitet bereits an der Fortsetzung seines Polit-Thrillers „Nucleus 2“.