Journalist und Autor Dieter Kassing im HA-Interview über mysteriöse Umstände bei der „Transnuklear-Affäre“ Ende der 80er Jahre

Hanau. Die Hanauer Firma „Transnuklear“ war Ende der 1980er Jahre in den Blickpunkt diverser Ermittlungen gekommen. In Wiesbaden, Bonn und Brüssel liefen Untersuchungen, an deren Ende falsch deklarierte Fässer mit Atommüll, Schmiergeldern in Millionenhöhe und weitere dubiose Machenschaften standen. Mysteriös war auch der angebliche Suizid des Vertriebschefs des Unternehmens, Hans Friedrich Holtz, der sich in U-Haft selbst umgebracht haben soll. Der Journalist und Autor Dieter Kassing spricht im Interview mit HA-Mitarbeiterin Andrea Pauly über die Vorkommnisse, und seine Forderung an die Staatsanwaltschaft, das Verfahren neu aufzurollen.

Herr Kassing, angesichts der Todesumstände von Herrn Holtz stellt man sich doch die Frage, warum dessen Angehörige und Ehefrau sich damals eigentlich nicht engagiert beziehungsweise Einspruch eingelegt haben ?

Dieter Kassing: „Ich habe Frau Holtz bereits zwei Mal angeschrieben, um von ihr Antwort auf diese und verschiedene andere wichtige Fragen zu erhalten. Auf meine Schreiben habe ich leider überhaupt keine Antwort erhalten. Vielleicht ist das ja ein

Grund: Die Witwe des anderen Hauptzeugen in diesem größten Atomskandal, der während die Untersuchungen verschiedener parlamentarischer Untersuchungsausschüsse in Bonn, Brüssel und Wiesbaden liefen, tot an den Bahnschienen in Hannover aufgefunden worden war, hat mir offenbart, dass sie sich vertraglich verpflichten musste, über das, was sie über die ganzen Dinge weiß, zu schweigen. Andernfalls könne es zu Problemen mit der betrieblichen Rente kommen. Ihr Mann war Manager eines norddeutschen Energieunternehmens für das das Unternehmen Transnuklear, bei dem Holtz quasi Vertriebschef war, Atomtransporte unternommen hatte.“

„Die Oberstaatsanwältin hat wohl die politische Sprengkraft erfasst“

Sie haben nicht nur die Hanauer Staatsanwaltschaft, sondern auch den Generalstaatsanwalt in Frankfurt aufgefordert, aufgrund der von Ihnen entdeckten Widersprüche bei den amtlichen Aussagen zum Tod von Holtz, den Dingen noch mal nachzugehen. Wie hat die Hanauer Staatsanwaltschaft auf Ihr Schreiben vom Dezember reagiert? Gibt es hier neue Erkenntnisse? Und zu welchem Schluss führt Sie die aktuelle Kenntnislage beziehungsweise. Ihr Wissen aus den Ihnen vermittelten Informationen?

Kassing: „Die Leitende Oberstaatsanwältin von Hanau, Frau Opitz, aber auch der Generalstaatsanwalt haben wohl die politische Sprengkraft, die dieser Fall noch immer in sich birgt, erfasst. Ich schließe auch nicht aus, dass es Querverbindungen nach Wiesbaden gegeben hat. Liegt die Akte, wie ich weiß, doch inzwischen wieder bei den Spitzen der Generalstaatsanwaltschaft auf dem Tisch, nachdem sie im Unterbau bearbeitet worden war. Der Generalstaatsanwalt hat, wie er mir inzwischen mitgeteilt hat, von Frau Opitz einen Bericht zum Fall angefordert. Frau Opitz hat sich also trotz ihrer Arbeitsbelastung mit einer Kollegin auf den Weg nach Wiesbaden ins Hauptstaatsarchiv begeben und dort haben sie zusammen nach der lange verschollenen Akte zum Todesermittlungsverfahren von Herrn Holtz gesucht. Frau Opitz ist, obwohl dort die Fachleute des Archivs zuvor auch intensiv danach gesucht hatten, fündig geworden, wie sie mir schriftlich berichtet hat. Das hat mich dann doch überrascht. Andererseits habe ich sehr begrüßt, dass somit nun weitere Fakten auf dem Tisch liegen. Die bestätigen meinen Eindruck, dass hier mit großer Nachlässigkeit entschieden wurde, Holtz habe Suizid begangen. . .“

Welche neuen Erkenntnisse gibt es denn nun?

Kassing: „Frau Opitz hat mir schriftlich Angaben aus der Todesermittlungsakte übermittelt. Danach hat Hans Friedrich Holtz die Pulsader am linken Handgelenk mit einem langen Schnitt aufgeschlitzt. Ein Schnitt, so hatte schon der damalige Oberstaatsanwalt Farwick staunend festgestellt, wie er ihn in seinem gesamten Dienstleben noch nicht gesehen hatte. Die Rasierklinge, mit der Holtz das selbst gemacht haben sollte, Frau Opitz bezeichnet sie in ihrem Schreiben an mich ganz richtig als ‚Tatwaffe‘, wurde ihrer Aussage nach gefunden. Sie war aber nicht auf Fingerabdrücke untersucht worden. Es gibt aber auch noch etwas anderes, das mich doch sehr stutzig gemacht hat. Ich darf darüber aber, so Frau Opitz, mit Rücksicht auf die Angehörigen von Herrn Holtz, nichts berichten. Danach gibt es noch, ich umschreibe es deswegen mal, ein sehr merkwürdiges Konstrukt, mit dem sich Herr Holtz fixiert und dann auf einen Stuhl gesetzt haben soll. Nichts, aber auch gar nichts, auch nicht dieses Konstrukt, ist in der Zelle von Holtz damals auf Fremdeinwirkung untersucht worden. Das steht inzwischen nun auch eindeutig fest. Fest steht auch, Herr Holtz wurde nicht obduziert. Dies verstößt ganz eindeutig gegen die Richtlinien für Strafverfahren. Da heißt es zusammengefasst: Lässt sich eine Straftat als Todesursache nicht ausschließen oder ist damit zu rechnen, dass Feststellungen später angezweifelt werden, veranlasst die Staatsanwaltschaft grundsätzlich die Leichenöffnung. Im Fall Holtz hat ein Arzt lediglich den Tod von Holtz festgestellt. Das war es. Sonst, so muss man zusammenfassen, ist nichts, aber auch gar nichts weiter untersucht worden. Inzwischen ist angeordnet worden, so habe ich von der Generalstaatsanwaltschaft erfahren, wird grundsätzlich bei unnatürlichem Tod in einer Strafanstalt die Obduktion angeordnet.“

Durften Sie inzwischen denn mal Einblick in diese Akte nehmen? Und zu welchem Schluss führt Sie Ihr aktuelles Wissen aus den Ihnen vermittelten Informationen?

„Akteneinsicht zu nehmen, ist mir verwehrt worden“

Kassing: „Akteneinsicht zu nehmen, ist mir mit unterschiedlicher Begründungen verwehrt worden. ‘Ihrem Wunsch, ‧Einsicht in die Akten des Todesermittlungsverfahrens zunehmen’, hat mir die Stellvertreterin von Frau Opitz, Frau Oberstaatsanwältin Kreis, geschrieben, ‘vermag ich nach sorgfältiger Prüfung und ‧Abwägung der Interessen nicht zu ‧entsprechen.’ Die bei der Generalstaatsanwaltschaft zuständige Oberstaatsanwältin, Frau Dr. Wüllner, hat mich kurz und ‧bündig beschieden: ‘Ihrem Wunsch in die Akte Einsicht zu nehmen, kann aus Rechtsgründen nicht entsprochen werden’.“

Das war es dann?

Kassing: „Das wäre zumindest wohl der Wunsch der beiden Staatsanwaltschaften. Vielleicht auch anderer Beteiligter. Frau Opitz hat mir denn auch mitgeteilt, für ‧eine Wiederaufnahme des Verfahrens ‘sehe ich nach Prüfung der Akten keinen ‧Anlass‘. Und weiter: ‚An einem Freitod ‧bestanden nach dem Ergebnis der Ermittlungen nicht die geringsten Zweifel‘. Das muss man sich mal vorstellen! Ich werde mit Hilfe eines Anwalts Antrag auf ‧Akteneinsicht stellen. Es gilt, die Rolle der damaligen Landesregierung in diesem spektakulären Fall zu klären. Nur mit ‧öffentlichem Druck, haben mir die Zuständigen im Bundesjustizministerium zu ‧verstehen gegeben, kann hier etwas erreicht werden, wenn schon die Angehörigen sich nicht einschalten. Die Feststellung der ‧Hanauer Staatsanwaltschaft, Hans Friedrich Holtz habe Suizid begangen, ist durch nichts belegt.“

Andrea Pauly (HA/mtb)

Größter deutscher Atomskandal

Dieter Kassing begleitete die „Transnuklear-Affäre“ von Anfang an

Hanau (anp/mtb). Er brachte schon 1987 den Stein mit ins Rollen. Der Journalist Dieter Kassing hatte in einem Interview den damaligen Hessischen Umweltminister Karlheinz Weimar mit der Möglichkeit potenzieller militärischer Nutzung des Atomstoffs aus Hanauer Nuklearfabriken konfrontiert. Damals stand Hanau als Atomstadt mit der Hanauer Firma „Transnuklear“ im Fadenkreuz diverser Ermittlungen.

In Wiesbaden, Bonn und Brüssel wurden Untersuchungsausschüsse tätig und fanden falsch deklarierte Fässer mit Atom- „Müll“, millionenhohe Schmiergeldzahlungen, exzessive Bordellbesuche, weitere bis dahin kaum für möglich gehaltene Vorkommnisse, wie die Lieferung von Tritium ins Atomforschungszentrum Mol in Belgien und andere Ungereimtheiten. In Hanau fand fast auf den Tag genau vor 26 Jahren daraufhin eine der größten Demonstrationen statt. Der „größte deutsche Atomskandal“, so Kassing, gipfelte am Ende in der Frage, hat Deutschland den Atomwaffensperrvertrag gebrochen? Während die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen noch liefen, kam einer der Hauptzeugen, der Vertriebschef von Transnuklear, Hans Friedrich Holtz, in der U-Haft in Hanau auf dubiose Weise ums Leben, was als Selbstmord deklariert wurde. Seinen brisanten und aktuellen Roman „Nucleus“ hatte Kassing im vergangenen Dezember bei einer Lesung mit anschließender Diskussion vorgestellt, die vom Bündnis gegen Atommülllager Hanau in Zusammenarbeit mit dem Buchladen am Freiheitsplatz veranstaltet wurde (der HA berichtete). Hier hat der Autor diese Geschichte noch mal aufgerollt und nach umfangreichen Recherchen der letzten Jahre neue Fakten ans Licht geholt. Unmengen von Seiten staatsanwaltlicher Akten, ehemals unter Verschluss gehaltene Bundestagsprotokolle und Stasi-Akten hat er unter anderem durchforstet.

Der 1941 geborene Kassing ist Journalist und Schriftsteller, arbeitete viele Jahre im politischen Ressort von Tageszeitungen, im Bundesbildungsministerium, als freier Korrespondent für Rundfunkanstalten und war 25 Jahre lang Leiter des Verlags „Energie und Umwelt“. 2005 sollte bereits sein Sachbuch „Die neue Bedrohung“ zum genannten Atomskandal erscheinen, wurde aber wegen zwei zeitgleicher Werke anderer Autoren im selben Segment nicht veröffentlicht. „Das Erlebnis dieses Atomskandals hat mich aber nicht losgelassen“ erklärte Kassing dem HA während des Pressegesprächs zur Lesung. Besonders beschäftigte den Journalisten auch das Schicksal des Transnuklear-Managers Hans Friedrich Holtz, der unter nicht eindeutig geklärten Umständen im Hanauer Untersuchungsgefängnis ums Leben kam. Die offizielle Version lautete Suizid. Kassing erläuterte, er habe bei seinen Recherchen schwere Widersprüche zu den bisher bekannt gewordenen Aussagen aufgedeckt und Holtz sei für ihn eine Schlüsselfigur im gesamten Skandal. Der Atommanager hätte bei seinem bevorstehenden Prozess über vieles berichten können, was bis dahin noch nicht bekannt war. Kassing ist aufgrund seiner umfangreichen Recherchen zu der Überzeugung gekommen, dass mit ziemlicher Sicherheit ganz andere statt Holtz „hinter schwedischen Gardinen geschmort hätten“ und weitere internationale Verwicklungen aufgrund „atomarer Praktiken von Hanauer Betrieben“ nicht auszuschließen gewesen seien. Der „Nucleus“-Autor betont, dass er nur ungläubig staunen könne, dass man einen solchen Fall, wie den des Herrn Holtz, so still und aktenmäßig beerdigen könne. In einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft forderte er diese zur erneuten Überprüfung des Sachverhaltes auf.

Quelle: Hanauer Anzeiger, Artikel vom 23. März 2013