„Die StädteRegion Aachen und Greenpeace Deutschland klagen seit Mitte Februar gemeinsam vor verschiedenen belgischen Gerichten gegen die Wiederinbetriebnahme des belgischen Pannenreaktors Tihange. Wir haben berichtet: Doel und Tihange – Deutsche Klagen auf Stilllegung belgischer Atommeiler, (s. unten). Wir haben den Atomexperten und Leiter des Atom- und Energiebereichs bei Greenpeace Deutschland, Thomas Breuer, der für Greepeace die Klagen mit vertritt, dazu befragt.

Greenpeace-Atom-Experte Thomas Breuer:
Greenpeace-Atom-Experte Thomas Breuer empfielt der Bundesregierung für europaweiten Ausstieg  einzutreten, bild greenpeace

Breuer befand sich, als wir ihm die Fragen übermittelten, in Japan zu Erkundungen über die Auswirkungen des atomaren Desasters nach den Gaus im Atommeiler Fukushima. Seine Antworten auf unsere Fragen trafen just an dem Tag ein, heute, dem 04. März, als der beinahe Gau im französischen Atommeiler Fesssenheim, nahe der deutschen Grenze, bekannt wurde.

Frage: Warum beteiligt sich Greenpeace Deutschland an der Klage?

Antwort: “Der Atomausstieg in Deutschland kann nur ein erster Schritt in eine Welt ohne Atomkraft sein. Greenpeace Deutschland arbeitet zusammen mit den internationalen Kollegen weltweit an einem Atomausstieg. Aus Deutschland heraus unterstützen wir insbesondere die japanischen, Schweizer, französischen und belgischen Kollegen.

Insbesondere das Betreiben der Pannenreaktoren Tihange und Doel betrachten wir als ein Spiel mit dem Feuer, dem zügig ein Ende gesetzt werden muss.”

Frage: Atom-Sicherheitsexperte Professor Wolfgang Renneberg, der ja als Berater der StädteRegion mit im Boot sitzt, erklärt auf seiner website: „Weder Ingenieure noch Juristen sind in der Lage, eine eindeutige Grenze zu definieren, ab der ein Atomkraftwerk sicher ist.- Vielmehr muss die Gesellschaft eine Entscheidung treffen, welche Risiken sie tolerieren will.“ Die deutsche Bevölkerung rund um den Pannenreaktor ist nicht bereit die Risiken zu tragen. Das hat die Bundesumweltministerin kürzlich dem belgischen Vizepremier vorgetragen. Ebenso hat das vor Tagen StädteRegionsrat Etschenberg in Begleitung von NRW-Staatssekretär Knitsch bei demselben Minister getan. Der verweist auf seine Atomaufsicht und erklärt: Alles sicher. Wie beurteilen Sie die Haltung der belgischen Seite?

Antwort: “Die Haltung der belgischen Regierung ist unverantwortlich und im europäischen Sinne undemokratisch. Zunächst einmal ist es hochproblematisch, dass die belgische Atomaufsicht von dem ehemaligen Leiter eines belgischen Atomkraftwerks geleitet wird.

Die StädteRegion Aachen und Greenpeace Deutschland kämpfen ab sofort gemeinsam gegen Tihange. Das haben Städteregionsrat Helmut Etschenberg (li.) und Thomas Breuer, der eigens zum Gespräch aus Hamburg angereist war, jetzt in Aachen vereinbart.
Die StädteRegion Aachen und Greenpeace Deutschland kämpfen ab sofort gemeinsam gegen Tihange. Das haben Städteregionsrat Helmut Etschenberg (li.) und Thomas Breuer, der eigens zum Gespräch aus Hamburg angereist war, jetzt in Aachen vereinbart.

Man hat hier den Bock zum Gärtner gemacht. Zum anderen ist es europäische Realität, dass die deutsche Bevölkerung den Atomausstieg will, weil sie nicht mehr gewillt ist, die Risiken der Atomkraft zu tragen. Von Tihange und Doel fühlen sich aber nicht nur die deutschen Nachbarn bedroht, sondern auch die niederländischen Nachbarn und die Belgier selbst. Hier wird es hochproblematisch, weil die belgische Regierung im Alleingang eine Entscheidung zum Weiterbetrieb sehr alter Reaktoren mit veralteter Sicherheitstechnik und Philosophie getroffen hat – ohne die deutschen und niederländischen Nachbarn, geschweige denn die eigene Bevölkerung zu befragen.”

Frage: Professor Renneberg hat im Anschluss an das Gesprächs

Experte für Atomsicherheit: Professor Wolfgang Renneberg
Experte für Atomsicherheit: Professor Wolfgang Renneberg

beim belgischen Premier darauf hingewiesen, dass ein Reaktor mit 8.000 Rissen betrieben werde, sei „einmalig in der Welt“. Verantwortet diese Risiken jedes Land für sich? Gibt es keine übergeordnete Institution die bei derartiger nationaler Unverantwortlichkeit eingreifen kann?

Antwort: “Es gibt Regelungen, die grenzüberschreitende Atom- und Umweltrisiken behandeln, wie beispielsweise die Espoo Konvention der UNO. Diese sind leider nicht so ausgestattet, dass sie von einer EU-Behörde durchgesetzt werden könnten. Dennoch haben die Staaten diese Regelungen verabredet, und es kann nicht sein, dass Belgien diese Regelungen völlig ignoriert.”

Frage: Im Frühjahr 2015 ist auf Betreiben der Schweiz bei der Internationalen Atom Energie-Organisation(IEAO) in Wien die Convention on Nuclear Safety (CNS) geändert worden. ENSI- Direktor , Erich Wanner, präzisierte im Interview mit Umwelt-Energie-Report die bestehenden Atomkraftwerke müssen so weit nachgerüstet werden, dass sie den neuesten Sicherheitsstandards entsprechen. Ist das CNS- Vertragswerk bezüglich des Zustands von Pannenreaktor Tihange zahnlos?

Antwort: “Diese Frage hat verschiedene Facetten. Zum einen muss man verstehen, dass die Internationale Atom Energie Organisation (IEAO) den Auftrag hat die Nutzung der Atomenergie in der Welt zu verbreiten – und nicht etwa, die Risiken zu minimieren, die sich aus der Nutzung von Atomkraft ergeben. Zum anderen sind die Regelungen der IEAO Empfehlungen und nicht bindend für die Mitgliedsstaaten.

Nuclear campaigner Thomas Breuer monitors radiation levels near Koriyama city, 50 km South of the Fukushima Daiichi nuclear plant. Greenpeace is working in the area to monitor radioactive contamination of food and soil to estimate the health and safety risks for the local population.
Greenpeace Atom Experte Thomas Breuer mit Geigerzähler  nahe Koriyama City, 50 km südlich von  Fukushima Daiichi dem durch mehrere Gaus zerstörten japanischen Atommeiler.  Greenpeace prüft für die Bevölkerung in der Umgebung des Reaktors die atomare Belastung …, bild greenpeace

Darüber hinaus ist es technisch nicht möglich alte Atomkraftwerke wie Tihange und Doel auf heutige Sicherheitsstandards zu bringen. Das käme quasi einem Neubau gleich, wenn man das erreichen wollte.”

Frage: Der vormalige, deutsche Energiekommissar Oettinger wollte bereits das europäische Haftungsrecht bei atomaren Unfällen angleichen. Die einzelnen europäischen Staaten, die Atomreaktoren betreiben haften bei Unfällen, wie Frankreich zum Beispiel geradezu unglaublich wenig. Oettingers Nachfolger Canete packt das heiße Eisen gar nicht erst an. Er ließ uns durch eine Sprecherin wissen seine Priorität sei die Vollendung der Energieunion. Ein Einsatzpunkt für Greenpeace? Würden die Haftungssummen der einzelnen Staaten drastisch nach oben angeglichen würden die Versicherungssummen für die Reaktorbetreiber stark steigen müssen und der Atomstrom immer unrentabler?

Antwort: “Die Haftungssummen für Atomunfälle sind im Pariser und im Wiener Abkommen geregelt. Die Haftungsbeschränkungen im Wiener Abkommen liegen bei circa 380 Millionen EUR und im Pariser Abkommen bei circa 19 Millionen EUR. Dabei gibt es eine Empfehlung der Nuclear Energy Agency, den Betrag auf 190 Millionen EUR zu erhöhen, und eine Erweiterung des Abkommens aus dem Jahr 2004 fordert 700 Millionen EUR. Letzteres Zusatzprotokoll wurde jedoch von den wenigsten Staaten ratifiziert. Ungeachtet dessen liegen alle diese Haftungssummen weit unter dem tatsächlich eintretenden Schaden eines großen Atomunfalls.

Bei einem Super GAU in Tihange in Belgien würde die belgische

Ein atomarer Gau vernichtet Existenzen und macht weite Teile eines Landes unbewohnbar;Bild Alexander Kassing, Düsseldorf
Ein atomarer Gau vernichtet Existenzen und macht weite Teile eines Landes unbewohnbar;Bild U&E,

Regierung gezwungenermaßen Geld in die Hand nehmen, um die gröbsten Schäden in Belgien zu beseitigen. Wer aber für die Schäden im benachbarten Ausland aufkommen würde, bleibt mehr als fraglich. In Deutschland ist die Haftung theoretisch unbegrenzt, praktisch allerdings mehr oder minder auf das Vermögen der Atomkraftwerksbetreiber beschränkt. Nach der derzeitigen Wirtschaftslage von RWE und Co. würde im Falle eines Super GAUs in Deutschland von den verantwortlichen Firmen auch nur ein Bruchteil des tatsächlichen Schadens beglichen werden können.

Das bedeutet, dass im Falle eines Unfalls im belgischen Tihange oder im französischen Fessenheim der Steuerzahler weitestgehend für die Notfallmaßnahmen aufkommen würde. Rechtsansprüche gegenüber dem deutschen Staat auf Kompensation gibt es nicht. Um eine Gleichbehandlung zumindest in Europa durchzusetzen, muss die Bundesregierung sich für unbegrenzte Haftung in allen europäischen Ländern einsetzen. Da jedoch mit finanziellen Mitteln die Gesundheitsschäden nach einem Atomunfall nicht geheilt werden können, ist der einzige Weg für die Bundesregierung sich für einen europaweiten Atomausstieg einzusetzen.”

Ein Atomunfall, ein Gau ... wäre für den ganzen Westen verheerend; bild U&E
Ein Atomunfall, ein Gau … wäre für den ganzen Westen verheerend; bild U&E

Frage: Zum Abschluss noch eine Frage die mitten in die gegenwärtigen heißen Flüchtlingsdebatten in Deutschland zielt: Der älteste französische Atommeiler Fessenheim nahe Freiburg, der belgische Pannenreaktor Tihange, nahe Aachen und das Schweizer Atomkraftwerk Leibstadt könnten, wenn in ihnen ein atomarer Crash passierte, für eine große deutsche Flüchtlingswelle sorgen. Niemand kann ja wissen wann was passiert. Allein um Tihange wären auf deutscher Seite im Umkreis von 100 Kilometern 1, 2 Mio Menschen betroffen. Wäre Deutschland auf eine solche Katastrophe überhaupt vorbereitet?

Antwort: “Niemand ist auf eine solche Katastrophe eingestellt. Das Katastrophenmanagement würde sich im Falle von Tihange und Fessenheim als zusätzlich kompliziert bis unmöglich erweisen, weil ein grenzüberschreitender Notfallplan notwendig wäre, der nicht zuletzt wegen sprachlicher Barrieren zum Scheitern verurteilt wäre.”

Lesen Sie dazu auch unseren Bericht: Hendricks: Trotz Atomausstieg leben Deutsche Bürger mit dem Atomrisiko der Nachbarn

Und auch: Deutsche Städte klagen gegen belgischen Atommeiler Tihange 2